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Klimawandel sichtbar machen

Die Ästhetik des Kartographen

Kann man kartographische Darstellungen möglicher Auswirkungen des Meeresspiegel-Anstiegs ästhetisch gestalten? Der Kartograph und Zeichner Heinz Schultchen verarbeitet ein unvorstellbares Szenario geographischer Veränderungen in einer Karte mit schon fast kosmetischer Anmut.

dfhn: Herr Schultchen, was sehen wir auf ihrer Karte? Oder sollten wir besser fragen, was wir nicht mehr sehen?

Heinz Schultchen: Es ist eine drastisch reduzierte, der Kartograph sagt: generalisierte, geomorphologische Darstellung Schleswig-Holsteins. Sie zeigt Küsten, Wattenmeer, Flüsse, Isohypsen, also Höhenlinien, mit Äquidistanzen von 10 – 40 – 80 – 120 – 160 m. Wir sehen die Landnahme durch den Blanken Hans bis zur Höhe 10 m über N.N. Es ist ein Horror-Szenario, ein apokalyptisches Bild, ein Worst Case, wenn alles schiefläuft: tagelanger Weststurm, Elbehochwasser aus dem Riesengebirge und der Moldau, Stromausfall bei den Flut-Toren… Es ist ein Bild zum Nach- bzw. Vordenken.

dfhn: Was hat Sie veranlasst, die Karte zu zeichnen?

Schultchen: Am 1. November 2019 sah ich am Rechner die Kolumne einer TV-Meteorologin zum Klimawandel, mit einem bearbeiteten Satellitenbild. Die Darstellung war mir zu schwammig. Ich verglich sie mit anderen Karten und erarbeitete auf der Grundlage meiner Schleswig-Holstein-Karte eine etwas genauere schematische Darstellung dieser Prognose. Die potentielle Überflutungsgefahr der norddeutschen Küstenregionen wurde mir schon 1965 anlässlich meines ersten Fluges mit einem Vermessungsflugzeug nach Norderney bewusst. Über der Elbe erschrak ich, als ich sah, dass Land und Wasser scheinbar auf einer Ebene lagen, also wie verletzlich unser Territorium ist.

dfhn: Kartographische Klimawandel-Simulationen sind sachlich, informativ, nüchtern. Ihre Karte ist anders…

Schultchen: Ja, sie soll emblematisch, allegorisch, metaphorisch – sinnbildlich sein. Mit anderen Worten auf einen Blick erfassbar sein, und emotional bewegen.

dfhn: Brauchen wir mehr plakative Präsenz in der Klimawandel-Diskussion? Auch die Überhöhung von sachlichen Informationen? Die Karikaturisten sind ja von Anfang an dabei gewesen.

Schultchen: Um aufmerksam zu machen – ja. Manchmal muss man sich „ein Bild machen“, um anders sehen zu können. Das Schleswig-Holstein-Flut-Schema zeigt einen temporären Zustand. Das Wasser läuft ja wieder ab, wenn die Bedingungen ein Ende haben. Es schärft aber die Vorstellung, dass es sich bei andauernden Pol-Schmelzen und gleichzeitiger Ausdehnung der Ozeane durch die Wassererwärmung in langen Zyklen zu einem dauerhaften Zustand entwickelt. Das ist die Botschaft.

dfhn: Sie leben in Schleswig-Holstein in der Nähe von Hamburg. Wie sieht es mit der Überschwemmungsgefahr in ihrem Atelier aus?

Schultchen: An meinem Zeichentisch sind es genau 13,7 m über N.N. Da ist ein Wasserrohrbruch wohl das wahrscheinlichste aller Szenarien.

Heinz Schultchen beginnt seine Laufbahn 1952 mit einer Kartographen-Ausbildung beim deutschen Hydrographischen Institut (DHI) in Hamburg und dem Kartenverlag Kümmerly + Frey in Bern. Nach Rückkehr in die Hansestadt ist er zunächst Chefkartograph, ab 1963 dann selbständig als Entwurfskartograph für Seekarten des DHI und als Ingenieur für das Vermessungsamt Hamburg mit öffentlichen Aufträgen.

Ab Mitte der siebziger Jahre widmet sich Heinz Schultchen neben der kartographischen Arbeit immer mehr dem Markendesign. Im Auftrag von Designstudios wie Peter Schmidt, Knut Hartmann, Lothar Böhm und Agenturen wie Scholz & Friends entstehen aus seiner Hand Logos und Wortmarken, Icons und heraldische Zeichen für Marken wie Jil Sander, Hugo Boss, Davidoff, Faber-Castell, Jubiläums Akvavit, Krombacher, Hasseröder, GEO, MERIAN oder das Wappen der Stadt Mailand.

Die unzähligen Kartenwerke von Heinz Schultchen finden sich heute in ebenso unzähligen kartographischen Sammlungen, seine Markenzeichen – alle zwischenzeitlichen Weiterentwicklungen überdauernd – in unserer heutigen Markenwelt.